Schulgeschichte

„68“ oder Die Jahre der Turbulenz

Kinderkreuzzug oder Beginnt die Revolution in den Schulen? Hg. von Günter Amendt. rororo aktuell 1968 (Schularchiv RWG)

Unter der Chiffre „68“ ging ein Jahr in die Geschichtsbücher ein, in dem viele Entwicklungen, die sich in den Jahren vorher schon angebahnt hatten, schließlich zum Durchbruch gelangten. In (West-)Deutschland kam es, angeführt von der Studentenschaft, zur offenen Rebellion gegen die restaurativen Strukturen der Nachkriegsgesellschaft, zum Aufstand gegen eine rigide und frömmlerische Moral, zum Protest gegen autoritäre Strukturen und zur Empörung über die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihrer Verbrechen. Aber „68“ war auch ein internationaler Vorgang: In den USA erfolgte der Aufstand gegen den Vietnamkrieg und die schwarze Bürgerrechtsbewegung entstand, in der benachbarten ČSSR brach der „Prager Frühling“ aus und wurde niedergeschlagen, weitere Proteste gab es in Frankreich, Polen, Mexiko und in Japan.

Aber „68“ umfasst noch mehr. Es war auch eine kulturelle und gesellschaftliche Wende: Der westlich-amerikanische Geschmack und Lebensstil, bewundert seit Kriegsende, setzte sich nun in Westdeutschland endgültig durch und dominierte von nun an die Lebenswelt. Pop-Kultur und Coolness prägten nun das Leben vor allem der jungen Menschen, und nun wollten eigentlich alle „jung“ sein: Das Alter verlor seine bisherige Geltung wie seinen Einfluss. Und „68“ war auch eine wirtschaftliche Revolution: Die Knappheit der Nachkriegszeit war (vorerst) endgültig überwunden, ein konsumorientierter Lebensstil konnte sich entfalten, das eigene Haus, das eigene Auto und die Urlaubsreise wurden zu gängigen materiellen Zielen und Statussymbolen. Vor dem Hintergrund der neuen Sekurität galten nun „Selbstentfaltung“ und „Selbstverwirklichung“ als erstrebenswerte Ideale, die nun auch auf ihre Realisierung durch die Politik drängten. Bis heute sorgen die Entwicklungen und Ereignisse von „68“ für Diskussionen, die 68er-Generation wird auch für „Bildungsnotstände“ und „Werteverluste“ verantwortlich gemacht. Aber man kann es drehen und wenden wie man will: Damals, „1968“, entstand auch in der Bundesrepublik die moderne Gesellschaft und das moderne Lebensgefühl.

Es wäre allerdings vermessen zu behaupten, dass nun ausgerechnet im beschaulichen Bayreuth und an seinem damaligen Mädchengymnasium plötzlich die Weltrevolution ausgebrochen wäre. Zu den Turbulenzen kam es in der Bundesrepublik vor allem in den Großstädten, speziell in den Universitätsstädten. Aber die Ausläufer des Gewitters erreichten auch die fränkische Kleinstadt. Die Universität (mit potentiell revoluzzerhaften Studenten und Professoren) öffnete erst 1972 ihre Pforten, aber es bestand bereits die Pädagogische Hochschule Bayreuth, bei der man umstürzlerische Bestrebungen unterstellen konnte. Und an den weiterführenden Schulen, besonders an den Gymnasien, wurden die Haare (der Jungen und Mädchen) länger, die Röcke (der Mädchen) kürzer, und ganz kurz wurde nach Meinung mancher traditionsverhafteter Lehrer der Verstand, weshalb neumodische Ansichten und vorlaute Kritik aufkommen konnten. Im Schularchiv des RWG sind viele Zeugnisse aus dieser Zeit erhalten, vor allem Rundschreiben und Flugblätter, die von der damaligen allgemeinen Aufregung Zeugnis geben. So fanden schon 1966 und 1967 Zeitungsberichte besondere Beachtung und wurden archiviert, in denen der Sinn des Religionsunterrichts und die Berechtigung eines Abiturfachs Religion angezweifelt wurden. In den folgenden Jahren tauchten Flugblätter auf (und wurden sorgsam abheftet), die sich gegen den Vietnam-Krieg aussprachen oder in denen „reaktionäre“ Äußerungen des bayerischen Kultusministers Huber süffisant kommentiert wurden. Streitschriften von auswärtigen Schüler- und Studentengruppen wurden ebenso penibel verwahrt.

Den Höhepunkt aller Umtriebe markierte jedoch die Gründung eines „Republikanischen Clubs“ (RC) in Bayreuth, zu dem es am 23. November 1968 schließlich auch kam. Das Vorbild war der gleichnamige Club in Berlin, ein Verein der außerparlamentarischen Opposition (APO), die so ihre Ziele außerhalb der Universität vertreten wollte. Der RC Berlin hatte sich im Sinne einer Propagierung linksrevolutionärer Anliegen auch eine „Demokratisierung der Schule“ zum Ziel gesetzt. Die Bayreuther Lehrer- und Direktorenschaft war alarmiert! Die Sympathisanten des zu gründenden RC Bayreuth starteten zudem an den hiesigen Schulen eine Flugblatt-Aktion, die provozieren und die Schülerschaft auf den kommenden Gründungsakt in der Gaststätte Weigand („Nebenzimmer“) aufmerksam machten sollte: „Alle Lehrer sind Papiertiger! Kommt in die Dressurschule des Republikanischen Clubs!“ – Die Schulleiter bewahrten beim Rauschen der Flugblätter dann aber überwiegend die Ruhe. Insbesondere Schulleiter Hopf war vollkommen gefasst, verleugnete wie immer keinen Augenblick den Kavalier und diskutierte vor dem Mädchengymnasium sogar mit den Verteilern der Schriften.

Die „Bayreuther Nachrichten“ am 22. November 1968 über das Flugblatt

Bericht vom 22. November 1968 über die Verteilung des Flugblatts am RWG

Einen ersten vorläufigen Abschluss fanden die Turbulenzen dann mit einem Treffen von Schulleitern von Gymnasien in Bamberg, Forchheim und Höchstädt, an dem auch „Herr Landgerichtspräsident Dotterweich“ und „Herr Dekan Dr. Schlichting“ teilnahmen und das am 6. Februar 1969 stattfand. Auf dem Treffen wurde zuerst das Buch „Kinderkreuzzug“ aus der Reihe „rororo aktuell“ erörtert (die Reihe mit dem giftigen roten Umschlag), das offenbar erhebliche Beunruhigung ausgelöst hatte. (Ein Exemplar des Buches ist noch im Archiv des RWG vorhanden.) Die Herren (es waren nur Herren) zeigten sich sodann nach einer im Schularchiv erhaltenen Mitschrift darüber besorgt, dass offenbar Studenten aus Bamberg und Erlangen einen verderblichen Einfluss auf ihre Schülerinnen und Schüler ausübten. Bis zu zehn Prozent der Schülerschaft sei zu allerlei revolutionären Aktionen bereit. Andererseits beruhigte jedoch, dass es „noch“ keine gewaltsamen Vorgänge gebe. Allerdings war es schon in Bamberg anlässlich eines Gerichtsverfahrens gegen Studenten und Schüler zu „unliebsamen Vorkommnissen“ gekommen, bei denen auch „die Würde des Gerichts“ gelitten hatte. Überhaupt werde nun deutlich, „welches Unheil Marcuse, Adorno u. a. angerichtet haben.“ Allerdings mussten die Schulleiter auch einräumen, „daß die Liste der radikalen Forderungen auch Wünsche enthält, die die Zustimmung aller Schüler finden. Weiterhin ist nicht zu leugnen, dass Schulsystem und Schulordnung nicht so sind, daß der Durchschnittsschüler sie verteidigen wird.“

Mitschrift (Einleitung) des Treffens der Schulleiter 1969

Fünfzig (!) Jahre nach 1968 sind viele Aktivitäten der damaligen Lehrer, Schüler und Studenten nur noch mit einer gewissen historischen Bemühtheit zu verstehen. Vor allem verblüfft heute die Sicherheit aller damaligen Akteure: Die progressiven wie die rückwärtsgewandten Kräfte wussten auf ihre Weise jeweils genau, was richtig und was falsch ist und wo es langgehen sollte. Diese Sicherheit ist mittlerweile abhanden gekommen. Und auch wenn man heute weiß, dass bald nach 1968 wieder eine „bleierne Zeit“ einsetzte und dass, so die Lehre von 1989, bei allen revolutionären Bestrebungen ein starkes Misstrauen angebracht ist, so muss man doch auch zugeben, dass die Jugend von 1968 auch ihre Ideale hatte. Und nicht allen Idealen seiner Jugend sollte man, so Friedrich Schiller, untreu werden.

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