Schulgeschichte

Chemieunterricht bei Herrn Landgraf 1952 oder „Wos mon außer Benzin noch tonkt“

„Pfeiffer, Sie gäben nicht acht. Wederholen Sie: Was verstäht man onter alkoholischer Gärung?“
Heinrich Spörl, Die Feuerzangenbowle

Chemieunterricht der Oberstufe bei Johannes Landgraf 1964

Naturwissenschaften wie Chemie und die Mathematik führten in den Anfangsjahren der Schule eher ein Schattendasein, nach Meinung der Erziehungsbehörden und der tonangebenden (männlichen) Lehrer schickten sich eher Fremdsprachen, Handarbeiten und Religionsunterricht für die höheren Töchter: Sie verliehen die notwendigen Kompetenzen, um später als Ehegattin, Hausfrau und Mutter an der Seite des bürgerlichen Gemahls reüssieren zu können.

Bevor man nun die Nase rümpft, sollte man bedenken, dass die Schule hier dem Zeitgeist folgte. Auch an den humanistischen Gymnasien wurde der Chemieunterricht bisweilen eher belächelt, denn die alten Griechen kannten angeblich keine Chemie und es war das Fach, in dem es stinkt und kracht. Erst die Einführung der Realgymnasien gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte dann zu einer enormen und mittlerweile unverzichtbaren Aufwertung der Naturwissenschaften an diesen höheren Schulen. Parallel dazu modernisierte sich auch die Töchterschule nach 1900: Die „Realien“ erhielten nun mehr Beachtung, Physik und Chemie wurden eigenständige Fächer, Mathematik wurde nicht mehr nur als „Kopfrechnen“ betrieben.

Fünfzig Jahre später, im Jahr 1952, waren diese Diskussionen längst passé. Seit 1947 verantwortete der Sachse Johannes Landgraf den Chemieunterricht der Schule und führte ihn zu ungeahnten Höhen. Davon gibt ein Bericht in der damaligen Schülerpostille Kunde, die unter dem anspielungsreichen, aber auch chemie-affinen Titel „Kneippzeitung“ herausgegeben wurde. Die Verfasserinnen des Beitrags, Schülerinnen einer 13. Klasse, dokumentierten darin das Unterrichtsgeschehen. Die heutigen Leser werden zu ihrer Verblüffung feststellen, dass hier, auch wenn dies schon unglaubliche 65 Jahre zurückliegt, nach den modernsten Unterrichtsprinzipien avant la lettre verfahren wurde.

Dies beginnt schon mit der auch heute so dringlich geforderten Pflege des Dialekts im Unterricht, wobei dies beim Sachsen „Loandgraf“ (sic) noch eine Verschärfung erfuhr: Die Schülerinnen konnten ihre eigenen fränkischen Betonungen kontrastiv dem Ostmitteldeutschen gegenüberstellen, und nicht ohne Grund empfehlen sie im dem Artikel, vor dem Unterrichtsbesuch einen „Kurzkursus in der sächsischen Sprache“ zu absolvieren. (Herr Landgrafs eigene Aussprache ist freilich seinerseits erkennbar vom oberfränkischen Zungenschlag eingefärbt.)

Die Chemiestunde fand zudem an exponierter Stelle statt, denn es war ein „blauer Montag, erstes Läuten“, als der bestens präparierte Lehrer sein „Skrüptum“ auspackte. Die Kontrolle der Anwesenheit war ihm ein Anliegen, und man erkennt hier sogleich einerseits den modernen geschlechtssensiblen Sprachgebrauch, da die Schülerin Bless mit dem kernig-bodenständigen Suffix „-in“ tituliert wird – eine auch noch heute anzutreffende Gewohnheit mancher Kolleginnen und Kollegen wie auch von Schülern. Andererseits zeigt sich eine geradezu väterliche Besorgnis, die jedoch die erzieherische Maßnahme nicht scheut:

„Blessin, wo komm’n Se denn her? Könn’s Se sich nich entschuldichen? Es hat bereits geläudet!! Na, das find ich ober ’n merkwürdiges Beneh’m, wenn Se in der 9. Klosse noch nich mol gelernt hoben, heflich zu sein! Ich muß Se einschreiben!“

Wer nun glaubt, der eigentliche Chemieunterricht wäre in abstrakt- unanschaulichen Bahnen verlaufen, geht fehl. Die Lehrkraft wählte naheliegende, der Lebenspraxis der Schülerinnen entliehene Unterrichtsbeispiele, um die Anwendungsbezogenheit der Chemie unmittelbar einsichtig zu machen. Zu beachten ist auch die überlegene Fragetechnik des Lehrers, der die Antworten auch bei komplexen Themen förmlich herauskitzelt:

„Holverscheit, kenn Se mir sogen, wos im Zuckerrübensaft alles drin ist?“ – Dietgart: „Dreck.“ – „Weikl, hoben Se ’n Audo?“ – „Nö.“ – „Kenn’n Se mer trotzdem sogen, wos mon außer Benzin noch tonkt?“ Anwort: „Kühlerschutzmittel.“

Schließlich und als Krönung einer modernen zeitgemäßen Schüleraktivierung werden die Versuchskästen ausgepackt, um selbst experimentieren zu können. Die heute vielbeschworene „Handlungsorientierung“ des Unterrichts – hier hatte sie bereits Einzug gehalten:

„Teil’n Se mol die Versuchskästen aus!“ – Allgemeine Vorfreude. Gleich wird man in Deckung sein, gleich wird man die Erlebnisse vom gestrigen Sonntag weiterträumen können!

Der letzte Satz weist darauf hin, dass damals wie heute insbesondere die Schülerinnen in oft ungeahntem Maße „multitasking-fähig“ sind, so wie es die moderne Informationstechnik definiert: Neben den Hantierungen mit den Chemikalien wurden im Unterricht von Herrn Landgraf auch Mathe-Hausaufgaben gelöst, Liebesbriefe verfasst, Modehefte gemustert, Brotzeiten eingenommen oder Bücher gelesen. Manche Schülerinnen holten auch etwas Schlaf nach, den sie am Wochenende versäumt hatten. Insgesamt gesehen gestalteten die Schülerinnen den Unterricht also modern-eigenverantwortlich, ohne dabei Herrn Landgraf in seiner didaktischen Tätigkeit zu stören.

Zudem gelang in diesem Untericht auch eine Förderung der besonders Veranlagten und Hochbegabten, Anliegen, denen die Unterrichtsbehörden erst heute die gebührende Aufmerksamkeit schenken. Doch schon Lehrer Landgraf differenzierte den Unterricht gekonnt nach den jeweiligen Schülerpersönlichkeiten und erteilte der neugierigen Schülerin Mausi Neuner, der „Koryphäe“, geradezu „privaten Unterricht“:

Nun wird das Skrüptum verglichen. „Na, wer hot’s denn schön? – Neuner, Sie?“ Mausi: „Ja, ich denk’s …“ Gewandt liest sie vor.

Dann kam die Erlösung, „der ersterbende Klingelton“ drang in die Schülerohren ein: Wieder war eine unvergessliche Unterrichtsstunde vorbei.

Chemie in der 12. Klasse 1964

Heute profiliert sich das Richard-Wagner-Gymnasium als Schule der Wissenschaften, die besonders die MINT-Fächer fördert: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Es gibt MINT-Wahlfächer und AGs, eine spezielle MINT-Förderung, MINT-Projekte, MINT-Kooperationen und MINT-Seminare. Die Schülerinnen und Schüler nehmen an MINT-Wettbewerbe teil, bei denen sie regelmäßig Preise und Auszeichnungen einheimsen. Zudem wurden in den letzten Jahren die Fachräume Physik und Chemie aufwändig restauriert und mit den neuesten technischen Anlagen ausgestattet. Bei der bevorstehenen Generalsanierung der Schule werden weitere Fachräume renoviert.

Jedoch wissen wir heutigen Zwerge, worauf wir stehen, nämlich auf den Schultern von Riesen wie denen des Landgraf aus dem Lande Sachsen.

Chemieunterricht heute bei Studienrätin Hofmann

Der Bericht in der „Kneippzeitung“ 1952

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