Schulgeschichte

„Müdigkeit und Erschlaffung“: Dispensanträge 1867 bis 1903

Dispense: Das waren die Anträge auf Befreiung vom Unterricht. Diese Anträge gibt es auch heute und sie sind eigentlich etwas Alltägliches, sieht man einmal davon ab, dass sich einige dieser Schreiben durch eine gewisse Originalität und Unerschrockenheit auszeichnen, so beispielsweise: „Unsere Tochter kann den Unterricht nicht besuchen, sie muss sich im Bayreuther Kreuzsteinbad auskurieren.“ Im Zeitalter des Datenschutzes und der elektronisch übermittelten Vordrucke sind die meisten Texte aber wenig reizvoll. Heute genügt als lapidare Begründung für eine Abwesenheit allein das Wort „Krankheit“.

Ganz anders vor 150 Jahren an der Höheren Töchterschule. Damals meldeten sich die Erziehungsberechtigten teils bestimmt, teils ausführlich zu Wort, um ihre Töchter vom Unterricht abzumelden, sie für andere Fächer anzumelden oder der Schule generell mitzuteilen, dass man mit bestimmten Unterrichtsinhalten und Gewohnheiten unzufrieden war und daher sein Kind kurzerhand davon freistellte.

Und das war möglich, denn die Schule war eben eine private Veranstaltung, deren Unterrichtsinhalte von den Gründervätern eingeführt worden waren und die seit ihrer Gründung 1867 vollständig vom Schulgeld, den privaten Spenden und von den Zuwendungen der Stadt abhängig war – also von Zahlungen, die Stadtväter bewilligen mussten, die ihrerseits die eigenen Töchter an der Schule untergebracht hatten und daher darauf vertrauen konnten, dass ihren Anliegen viel Verständnis entgegengebracht wurde.

Erst nach 1900 änderte sich dies, als im Zuge der allgemeinen Unterrichtsreformen und der Einführung der staatlich anerkannten Zeugnisse mehr Verbindlichkeit in den Unterrichtsbetrieb und die Unterrichtsinhalte einkehrte.

Aber dies alles wäre wohl längst vergessen, hätte nicht der penibel-ordnungsliebende Schulleiter Grossmann, der von 1867 bis 1893 amtete, die Dispense, die von den Eltern eingereicht wurden, akribisch zur Kenntnis genommen, unterzeichnet und sorgfältig abgeheftet. Und durch einen weiteren glücklichen Zufall blieb der Aktenband mit den Dispensen im Schularchiv erhalten. Diese überlieferten Schreiben geben einen einzigartigen Einblick in den damaligen Schulbetrieb, die Auffassung vom Unterricht und vom standesbewussten Auftreten der Elternschaft.

So klagte der Hauptmann von Vollmar-Veltheim 1869, zwei Jahre nach Gründung der Schule, dass seine Tochter Pauline durch das Auswendiglernen der Oden Klopstocks gesundheitlich schwer angegriffen sei, sie deshalb davon befreit werden möge und dass sie überhaupt nur noch stundenweise am Unterricht teilnehmen könne:

Dispensantrag des Hauptmanns von Vollmar 1869

Ingolstadt, den 11. Maerz 1869

Hochgeehrtester Herr Rector!

Während meines letzten Aufenthaltes in Bayreuth wurde mir von Seite meiner Tochter Pauline sehr häufig geklagt, daß sie stark an Kopfweh leide. Ich sehe mich daher veranlaßt, Euer Wohlgeboren ergebenst zu bitten, sie vom Auswendiglernen der Oden Klopstocks zu dispensieren, da dies für sie eine Anstrengung ist, mit der ich mich in billiger Berücksichtigung ihrer Gesundheit nicht einverstanden erklären kann. Zugleich erlaube ich mir, Euer Wohlgeboren in Kenntnis zu setzen, daß ich von Ostern an meine Tochter nur mehr an einzelnen Lehrstunden teilnehmen zu lassen beabsichtige, da dieselbe von Tag zu Tag ihrer Mutter im Hause nötiger wird.

Indem ich Euer Wohlgeboren bitte, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung zu genehmigen, verbleibe ich mit aufrichtigster Gesinnung

Euer Wohlgeboren
ergebenster
M. von Vollmar-Veltheim Hauptmann.

Es war durchaus auch üblich, dass die Eltern ihre Töchter von bestimmten Fächern abmeldeten, da diese für die Ausbildung ihrer Kinder entbehrlich seien. Dies wird an den Abschlusszeugnissen deutlich, so an dem der späteren Heimatdichterin Sophie Höchstätter, die im Schuljahr 1889/1890 in Naturgeschichte, Physik und Chemie nicht unterrichtet wurde und daher in diesen Fächern keine Zeugnisnoten bekam:

Zeugnis von Sophie Höchstätter 1889/1890

Auch Vater Carl Boller hielt es 1891 für angemessener, dass sich seine zur Bleichsucht neigende Tochter besser an der „frischen Luft“ aufhielt als den Unterricht im Physiksaal abzusitzen:

Bayreuth, den 7. April 1891
Hochwohlgeboren
Herrn kgl. Rektor
Großmann dahier.

Ich erachte es aus dem Grunde für besser die Physikstunden von meiner Tochter Elsa nicht mehr nehmen zu lassen, weil zu Bleichsucht angelegt, weßhalb (ich) eine andere Beschäftigung event. frische Luft vorziehe.-

Zudem kan(n) kein Zwang bestehe(n), nachdem meine Tochter 7 1/2 Schuljahre hat und wird später nur fremde Sprachen, Religion etc. nehmen.-

Hochachtungsvoll
Carl Boller

In der Dispens-Akte findet sich kein Schreiben, mit dem eine Schülerin vom Handarbeitsunterricht oder einem anderen „weiblichen“ Fach abgemeldet wurde. Zudem weist im Jahr 1900 die Königliche Regierung von Oberfranken, Kammer des Innern, in ihrem Schreiben Nr. 15674 darauf hin, dass – sozusagen im Sinne Goethes – nicht jedes sich für jeden schickt. Für Mädchen schicken sich vor allem keine Quadratwurzeln, wie die Behörde des Regierungspräsidenten von Roman feststellte, der seine Tochter praktischerweise ebenfalls an der Schule eingeschrieben hatte. Mit schöner Sicherheit definierte die Behörde die Bildungsziele einer Schule für junge Frauenzimmer:

Nach der Anschauung der K. Regierung liegt das Ausziehen der Quadratwurzel nicht innerhalb der Aufgabe einer Mädchenschule, wie überhaupt in dieser Kategorie von Anstalten der Rechenunterricht rein praktische Ziele verfolgen und namentlich die spätere Haushaltstätigkeit des weiblichen Geschlechts berücksichtigen soll.

Schreiben Nr. 15674 der Königlichen Regierung von Oberfranken, Kammer des Innern, im Jahr 1900

Als feststehend darf vorausgesetzt werden, daß die Töchterschule nicht Gelehrsamkeit und Vielwissen pflegen, sondern harmonische Bildung vermitteln soll, welche die Mädchen befähigt, in ihrer späteren Stellung als Frauen oder Jungfrauen innerhalb der gebildeten Familie segensreich zu wirken und am geistigen Leben des Volkes mit Verständnis teilzunehmen.

Daher darf es nicht verwundern, dass gelegentlich ein Vater dem Direktor auch bedeutete, ab welchem Schuljahr seine Tochter in welchen Fächern unterrichtet werden sollte:

Zeige hiemit Herrn Rector an, daß meine Tochter Louise IV. Kl. den französischen Unterricht mit der zweiten Klasse und den englischen mit dritter Klasse im neuen Schuljahr beginnen wird.

P. Schwabacher
2. 10. 1882

Generell hatten familiäre Belange Vorrang vor schulischen Veranstaltungen, wie zahlreiche erhaltene Dispense zeigen. Dies wird auch deutlich in einem Schreiben des kgl. Oberförsters Prichter von 1877, der seine Tochter Röschen gleich komplett von der Schule abmeldete:

Dispens Prichter 1877

Hochwohlgeborener, Hochzuverehrender Herr Rector!

Wegen langwierigen Unwohlseins meiner Gattin ist derselben die Pflege ihrer einzigen Tochter, meines Röschens, unentbehrlich und ich bin leider gezwungen deshalb deren Austritt aus der Höheren Töchterschule, deren verehrter Vorstand Sie sind, hiemit von Ostern an zu erklären.

Euer Hochwohlgeboren
ganz ergebener
Prichter
Kgl. Oberförster

Gelegentlich wurde es Direktor Grossmann aber zu bunt. Als Vater Reuter 1879 seine Tochter vom Zeichnen abmelden wollte, verweigerte er sein Plazet:

Bei der geringen Anlage meiner Tochter Laura fürs Zeichnen bin ich damit einverstanden, daß dieselbe vom Unterricht in Zeichnen dispensiert wird, und statt dessen sich mit weiblichen Handarbeiten beschäftigt.
Dr. med. Reuter
Bayreuth, 1. Febr. 1879

Auch als der königliche Regierungsrat Grimm seine Tochter vom Naturkunde-Unterricht befreien wollte, gab er zumindest „vorläufig“ keine Zustimmung:

Dispens Grimm 1882

Euer Hochwohlgeboren!

Meine Tochter Emma Grimm nahm bisher als Schülerin der höheren Töchterschule auch an dem Unterrichte in der Naturgeschichte theil. Da dieselbe für diesen Gegenstand zur Zeit noch wenig Verständniß und Eifer bekundet, erlaube ich mir die ganz ergebenste Bitte zu stellen, dieselbe von der Theilnahme an dem gedachten Unterrichte entbinden zu wollen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Euer Hochwohlgeboren
ergebenster
Grimm
Kgl. Reg.rath
Bayreuth 3. Nov. 1882

Sehr üblich und wohl auch kaum zu verweigern waren die Dispense, die in großer Zahl wegen des Turnunterrichts erteilt wurden, zumal auch viele Eltern den neumodischen sportlichen Aktivitäten der Mädchen überaus reserviert begegneten. Ein „graziler Körperbau“, die „Disposition zu Kopfweh und Schwindel“ oder auch „Nervenschwäche“ machten es unmöglich, sich an den Leibesübungen zu beteiligen. Direktor Dr. Kraußmann, der Leiter der „Kreisirrenanstalt Bayreuth“, machte den Schulleiter Grossmann 1889 darauf aufmerksam, dass er „zudem Turnapparate im eigenen Garten“ besitze, seine Tochter müsse daher nicht den Sportunterricht frequentieren.

Auch Heimweh und Abneigung gegen die Schule in Bayreuth konnten ein Entschuldigungsgrund sein. Oberamtsrichter Buff muss 1881 melden, dass seine Tochter Pauline, die offenbar in einem Pensionat in Bayreuth untergebracht war, wegen allgemeinen Unwohlseins nicht mehr nach Bayreuth zurückkehren wird:

Dispens Buff 1881

Hochzuverehrender Herr Rektor!
Unlieb sehe ich mich zu der Mittheilung veranlaßt, daß mein Töchterchen Pauline Buff sehr unwohl von Bayreuth zurückgekommen ist und in einem solchen Grade an der Bleichsucht leidet, daß in Folge der hiemit verbundenen Mattigkeit und Apathie jede geistige Anstrengung auch beim besten Willen fruchtlos seyn würde. Ich kann daher vorläufig Nichts thun als abzuwarten, ob einige Wochen mütterlicher Pflege vielleicht die ersehnte Besserung herbeiführen; bitte von Obigem zur geneigten Entschuldigung des Ausbleibens Kenntniß zu nehmen und zeichne, Weiteres vorbehaltend, unter besten Glückwünschen für den Jahreswechsel

mit ausgezeichneter Hochachtung
Ihr ergebenster
Hermann Buff
K. Oberamtsrichter
Heidenheim den 31. Dezember 1881

Von besonderer Delikatesse waren Gesuche, die von Honoratioren eingereicht wurden. Einerseits konnte Direktor Grossmann wohl oder übel nicht ablehnen, andererseits wollte er eine gewisse Autorität der Schule wahren. Als der bekannte und einflussreiche Bankier Carl Schüller 1889 zwar höflich, aber sehr bestimmt seine Tochter Ida wieder einmal vom Singunterricht am Mittwoch Nachmittag abmeldet, schreibt Grossmann ebenso höflich und bestimmt zurück, dass er für dieses Gesuch wenigstens eine Begründung wünsche. Der Bankier lässt daraufhin vom Landgerichtsarzt Dr. Landgraf etwas von oben herab ausrichten, dass eine Befreiung aus medizinischen Gründen unerlässlich sei:

Attest Dr. Landgraf 1889

Ich constatiere hiemit auf Verlangen, daß es vom ärtzlichen Standpunkt aus nur zu billigen ist, wenn Herr Banquier Schüller seine Tochter Ida an dem Gesangsunterricht der Töchterschule ferner nicht theilnehmen lassen will.

Bayreuth am 6. Februar 1889
Dr. Landgraf

Als jedoch Tochter Ida dann an ihrem singfreien Nachmittag auf der „Mittwochs-Militärparade im Hofgarten“ verhaltensauffällig wird, kann sich Grossmann mit einem Verweis revanchieren:

Unter Bedauern theile ich Ihnen mit, daß ihre Tochter Ida, Schülerin der V. Klasse, wegen nicht geziemenden Benehmens auf einer Mittwochs-Militärparade im Hofgarten einen Verweis von Seite des Direktoriums erhielt.

Die erhaltene Dispens-Akte belegt, dass der Höheren Töchterschule wahrhaft nichts Menschliches fremd war. Sie ist aber auch ein Zeugnis dafür, wie Direktor Grossmann durch seine Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit der privaten Schule schnell Ansehen verschaffte. Er war eine Respektsperson, und Eltern verstiegen sich in den Dispensen bei der Anrede sogar zu einem „Hochwohlgeboren“ und peinlicherweise zu einem „Euer Hochwürden“ statt des korrekten „Euer Wohlgeboren“. Und es wurde selbstverständlich „ergebenst“ unterzeichnet. Tempi passati!

Direktor Grossmann

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