Schulgeschichte

Europa-Fahrt 1986: Taufrisch und bärenstark!

Europa-Fahrer 1996 auf der Treppe des Parlaments in Straßburg

Wir schreiben das Jahr 1986. Seit mehr als zehn Jahren sitzen die Latein-Schüler der 11. Klasse des RWG trübsinnig im Frühjahr im Unterricht, während die „Franzosen“ quietschmunter zu ihrem Schüleraustausch nach Annecy aufbrechen. Frust breitet sich unter den Nicht-Franzosen aus. Ein unhaltbarer Zustand!

Doch die Lage findet ihren Mann. Rainer Trißl, Oberstudienrat und Reserve-Offizier, umtriebig und weitgereist, sinnt auf Abhilfe. Da er selbst schon viel in Frankreich herumgekommen ist und auch die Gedenkstätten von Verdun besucht hat, reift der Plan zu einer „Verdunfahrt“, also an den schicksalhaften Gedenkort, der wie kein anderer Deutsche und Franzosen verbindet. Und so setzen sich die Schüler der 11. Klasse im März 1986 in Bewegung. Vorzugsweise ist es die noch eher kleine Gruppe der Lateiner, die bisher fahrtentechnisch das erwähnte Nachsehen hatte und die nun den Bus entert. Sie geht auf eine Reise, die in fünf Tagen nach Heidelberg, Straßburg, Worms, Hambach, schließlich nach Verdun und zurück über Ludwigshafen wieder nach Bayreuth führt.

Es war die Zeit des Aufblühens des europäischen Gedankens, 1979 fanden ja bereits die ersten Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Europa dehnte sich aus, immer mehr Ländern wurden Mitglied der Gemeinschaft, die zudem auch einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Auch das anspruchsvolle und umfassende Reiseprogramm der ersten Fahrt 1986 deutete schon an, dass es sich nicht nur um eine etwas belächelte „Kriegsgräberfahrt“ für die Daheimgebliebenen handeln sollte. Rainer Trißl dachte in größeren Dimensionen. Und schon 1988 führte die Reise, die nun „Europa erfahren“ benamst wurde, von Nördlingen nach Rainau an den Limes, dann über Stuttgart, Karlsruhe und Ludwigsburg nach Straßburg, dann weiter nach Hambach, Trier und hinein nach Luxemburg, über Lüttich nach Verdun, wieder zur Mosel und an den Rhein, und schließlich zurück über Frankfurt nach Bayreuth. Zugleich wurden die Mittel der modernen Dokumentation ausgereizt: Ein Teilnehmer verewigte die Fahrt auf einem Video-Film.

Bei der Fahrt 1990 drängten dann schon 51 Schülerinnen und Schüler in den Bus. Immer neue Orte und Sehenswürdigkeiten wurden in das mehrtägige Fahrten-Programm aufgenommen oder ersetzen bisherige Ziele oder Punkte, die in einem bestimmten Jahr nicht besucht werden konnten: Köln, Xanten, Amsterdam, Brüssel, Hambach und Heidelberg erhielten das Prädikat des Sehenswerten.

Die Europa-Fahrt 1991 markierte dann den ersten Höhepunkt der Reisetätigkeit, und so ging es später weiter: Schülerinnen und Schüler aller 11. Klassen schoben sich nun in den Bus, und es mussten daher bereits zwei Fahrzeuge gechartert werden – wie es ja immer wieder merkwürdig ist, dass die Schülerinnen und Schüler gern alles stehen und liegen lassen, sobald Gerüchte um eine Fahrt aufkommen und Unterrichtsausfall winkt … Die anderen Lehrer und Fächer besahen den Trubel nun bisweilen etwas neiderfüllt und waren manchmal froh, die Lücken in ihren Reisegruppen nach Frankreich oder Italien schließen zu können. Die Europa-Fahrt wurde wahrlich immer mehr zu einem Renner und sie blieb es, bis zum Ruhestand von Herrn Trißl.

Europa-Fahrer 1997 vor dem Atomium in Brüssel

Wer nun aber heutzutage glaubt, es hätte sich um Fahrten in einem unbeschwert-japanischen Stil gehandelt („Fünf Städte in fünf Tagen“), der unterliegt einem schweren Irrtum. Der Reiseleiter selbst nannte seine Unternehmung eine „Studienreise“, die „wahrlich anstrengend“ sei. Und da versprach er nicht zuviel – aber Reserveoffizier Trißl, geübt in der Bewegung großer Menschenmassen, hatte die Sache im Griff.

Jeder Fahrt ging eine monatelange generalstabsmäßige Planung voraus, die die Auswahl und Buchung der Jugendherbergen ebenso umschloss wie die Festlegung der „Aldi-Stopps“, bei denen die marschierende Truppe Verpflegung fassen konnte. An die Schüler wurden schon im Unterricht Referate verteilt, um bereits im Vorfeld die sorgfältige Rekognostizierung des Geländes sicherzustellen. Die Referate mussten dann an Ort und Stelle gehalten werden, unterwiesen über den Ort und seine Bedeutung und bewirkten so eine Vertiefung des Geschauten. Der Reiseleiter würzte die Ausführungen mit eigenen Erläuterungen und Anekdoten – und das gelang ihm immer wieder sehr gut, wie die Teilnehmer der Fahrt später bezeugten.

Freilich verlangte das Fahrtenprogramm, das stets einen leichten Hang zum Monströsen hatte, den Teilnehmern alles ab. Die Busfahrer waren zu einem flotten Tempo angehalten, die Abfahrten mussten pünktlich erfolgen. Verspätungen schätzte der Reiseleiter nicht, wer zu spät kam, den bestraften die Taxigebühren, da man wieder Anschluss finden musste. Einmal aus dem Bus ausgestiegen wurde vom Leiter ein rasanter „Euro-Schritt“ vorgelegt (Marschtempo ca. 200), um alle Sehenswürdigkeiten in der vorgegebenen Zeit erreichen zu können. „Taufrisch und bärenstark!“: mit diesem berühmten Ausruf hielt der Anführer seine Kolonnen auf Trab. Der Spruch der Fremdenlegion („Marschier oder stirb!“) dürfte manchem Teilnehmer der Fahrt in die Beine gefahren sein.

Erst am Abend, als man endlich in der Jugendherberge eingekehrt war, hatte die Truppe etwas Ruh‘ und man fand Muße, nun auch vom französischen vin rouge oder dem kräftigen belgischen Trappisten-Bier zu kosten – Erfrischungen, die manchmal vielleicht ein klein wenig zu Kopf stiegen. Aber wer nun hoffte, am anderen Morgen noch etwas schlummern zu können, ging schweren Enttäuschungen entgegen. Gemäß dem alten Troupier-Spruch, dass ein strammer Marsch die beste Medizin ist, trieb Reserveroffizier Trißl die Mannschaften unerbittlich aus den warmen Betten. Die Busse wurden wieder bemannt, die Fahrt ging weiter: Der europäische Gedanke duldete kein Schwächeln.

So nimmt es nicht Wunder, dass einige Teilnehmer nach der Fahrtenwoche froh waren, wieder das heimelige Bayreuth erreicht zu haben. Aber: Überstandene Strapazen schweißen bekanntlich zusammen. Noch heute erzählen sich die Veteraninnen und Veteranen von den Abenteuern der Fahrt („Weißt du noch wie wir …“), zeigen stolz ihre Narben vor und singen Heldenlieder von schier unglaublichen Taten. Ein Initiationsritus fand statt, wie die Ethnologen wissen: Hier reifte mancher Jüngling zum Manne, hier entpuppte sich die Maid als Frau.

Heute hat der europäische Gedanke viel von seiner Faszination eingebüßt. Krisen und Abspaltungen belasten die Union, vielen scheint das vereinte Europa eher eine Last denn eine Verheißung zu sein. Die Teilnehmer der legendären Europa-Fahrt von Rainer Trißl wissen es besser: Die Europäer haben eine wechselvolle, aber gemeinsame Geschichte und sie sollten zusammenstehen. Vor allem aber: Europa ist eine Reise wert!

Europa-Fahrer 1998: erschöpft, müde, zufrieden

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